Strafjustiz am Limit

Zwei Jahre nach dem Abschluss des Rechtsstaatspaktes von Bund und Ländern fällt die Zwischenbilanz durchwachsen aus.

Zwar häufen sich die Erfolgsmeldungen der Bundesländer über Neueinstellungen in der Justiz, sie schlagen sich in den „Leistungsbilanzen“ der Gerichte und Staatsanwaltschaften aber noch nicht signifikant nieder. Denn die Aufgaben der Justiz sind zuletzt ebenso schnell gewachsen wie die Zahl der Juristen, unter dem Strich ist die Belastung vielerorts nahezu unverändert. Insbesondere Deutschlands Strafjustiz arbeitet am Limit, wie die aktuellen Justizstatistiken deutlich zeigen.

Erstens dauern Gerichtsverfahren vor den Strafgerichten in Deutschland immer länger. Die Bearbeitungszeit nimmt insbesondere bei den Landgerichten seit Jahren zu. Die durchschnittliche Dauer erstinstanzlicher Strafverfahren ist hier im Zehn-Jahres-Vergleich um fast zwei Monate auf einen neuen Höchstwert von acht Monaten gestiegen. Gerechnet ab Eingang bei der Staatsanwaltschaft laufen die erstinstanzlichen Verfahren beim Landgericht im Schnitt sogar mehr als 20 Monate, so lange wie noch nie. Die durchschnittliche Verfahrensdauer ist 2019 damit das sechste Jahr in Folge gestiegen.

Staatsanwaltschaften entwickeln sich zum Nadelöhr

Zweitens entwickeln sich die Staatsanwaltschaften zum Nadelöhr bei der Strafverfolgung. Ein Hinweis auf deren starke Arbeitsbelastung ist, dass die Zahl der nach Ermessen eingestellten Verfahren im Zehn-Jahres-Vergleich erheblich zugenommen hat. Das betrifft die Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft zwar einen hinreichenden Tatverdacht sieht, das Verfahren aber zum Beispiel wegen Geringfügigkeit einstellt. Auch in der Corona-Pandemie ist die Staatsanwaltschaft besonders gefordert – neben den Verwaltungsgerichten, die in diesem Jahr bereits über tausende Eilanträge gegen Infektionsschutzmaßnahmen zu entscheiden hatten. Die Strafverfolgungsbehörden haben seit Beginn der Corona-Krise sogar mehr als 20000 Fälle wegen erschlichener Corona-Soforthilfen oder anderer Straftaten mit Pandemie-Bezug erreicht. Das geht aus einer Umfrage der Deutschen Richterzeitung bei den Justizministerien und Staatsanwaltschaften der Länder hervor.

Es dürfte bis weit ins nächste Jahr hinein dauern, ehe Staatsanwaltschaften und Gerichte alle Corona-Strafverfahren abgearbeitet haben. Abzuwarten bleibt, inwieweit die ab November neu aufgelegten Hilfspakete die Fallzahlen 2021 noch weiter steigen lassen. Baden-Württemberg liegt bei Strafverfahren mit Corona-Bezug bundesweit nicht an der Spitze. Im Südwesten summieren sich die Verfahren bisher lediglich auf eine dreistellige Zahl, während die Strafverfolger in Nordrhein-Westfalen seit dem Frühjahr 2020 mehr als 7500 Fälle wegen Verdachts auf Subventionsbetrug und anderer Betrugsmaschen zu verzeichnen hatten.

Verdächtige müssen aus der U-Haft entlassen werden

Dritter Befund, der auf Engpässe und eine hohe Belastung hindeutet: Nach Recherchen der Deutschen Richterzeitung mussten die Strafgerichte in der Vergangenheit immer wieder Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen, weil Verfahren zu lange gedauert haben. Mindestens 69 dieser Fälle haben die Landesjustizverwaltungen für das Jahr 2019 gemeldet, nachdem es im Jahr zuvor 65 und in 2017 noch 51 Fälle waren. Insgesamt sind in den fünf Jahren von 2015 bis 2019 in Deutschland mehr als 250 Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen worden, weil ihre Strafverfahren nicht schnell genug vorangetrieben werden konnten.

Für Haftsachen gilt ein Beschleunigungsgebot, sie sind vorrangig vor anderen Verfahren zu bearbeiten. Eine feste Obergrenze für die Dauer der Untersuchungshaft gibt es zwar nicht. Über sechs Monate hinaus darf sie aber nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen das rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Länder in diesem Zusammenhang wiederholt an ihre Verantwortung für eine funktionsfähige Justiz erinnert. Die Verfassungsrichter haben in ihren Entscheidungen mehrfach betont, dass die Justizverwaltungen die Pflicht trifft, ihre Gerichte verfassungsgemäß auszustatten. Eine dauerhafte Überlastung des zuständigen Gerichts rechtfertige keinesfalls eine rechtsstaatlich unangemessen lange Untersuchungshaft, so die Mahnung aus Karlsruhe.

Immer aufwendigere Strafverfahren

Die hohe Arbeitsbelastung insbesondere in der Strafjustiz ist auch darauf zurückzuführen, dass Strafverfahren immer aufwendiger werden. Die Straftaten weisen häufiger Auslandsbezüge auf und die Ermittlungen richten sich gegen international weit verzweigte Tätergruppen. Auch haben sich die auszuwertenden Datenmengen in der digitalen Welt vervielfacht. Zudem nehmen Regelungsdichte und Detailtiefe der Gesetzgebung in Berlin und Brüssel gerade im Strafrecht seit Jahren zu. Das führt im Ergebnis dazu, dass die Stellenzuwächse der vergangenen Jahre in der Justiz noch zu wenig bewirkt haben.

Die Probleme könnten sich noch zuspitzen, sollten die Länder beim Personal nicht mit den neuen gesetzlichen Aufgaben Schritt halten, die der Gesetzgeber in Berlin derzeit mit hohem Tempo beschließt. So hat der Nationale Normenkontrollrat, der die Kostenfolgen von Bundesgesetzen prüft, dem Bundesjustizministerium vorgerechnet, dass die Justiz für die auf den Weg gebrachten Gesetze gegen Hass und Hetze im Netz sowie gegen Unternehmenskriminalität mehr als 500 weitere Stellen für Richter und Staatsanwälte benötigt. Um die Pläne für eine stark erweiterte Strafbarkeit der Geldwäsche umzusetzen, braucht es allein bei den Staatsanwaltschaften bundesweit weitere 100 Juristen. Schließlich will die Bundesregierung auch den Kampf gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie durch zahlreiche Strafverschärfungen und eine erweiterte Strafverfolgung intensivieren. Unter anderem sollen Mindeststrafen erhöht, Verfahrenseinstellungen und schriftliche Strafbefehle ausgeschlossen sowie die Zuständigkeit des Einzelrichters unterbunden werden. Auch diese Gesetzesänderungen werden in der Praxis nur etwas bewirken können, wenn die Länder für die betroffenen Deliktsfelder eine dreistellige Zahl zusätzlicher Strafrichter und Staatsanwälte bereitstellen.

Gerichte haben enormen Nachholbedarf bei der Digitalisierung

Es ist also absehbar, dass der Anfang 2019 geschlossene Rechtsstaatspakt von Bund und Ländern zur Stärkung der Justiz Ende 2021 nicht auslaufen darf. Es braucht eine Anschlussvereinbarung, die den Personalzuwachs verstetigt und den Fokus zudem auf die Digitalisierung der Justiz legt. Bei der Netzinfrastruktur, der IT-Ausstattung, der elektronischen Gerichtsakte und bei Online-Verhandlungen besteht Nachholbedarf, wie die Corona-Pandemie offengelegt hat. Der Modernisierungsstau ist in vielen Gerichten ähnlich lang wie der an den Schulen, wo der Bund die Länder finanziell ebenfalls stark unterstützt.

Ein Kommentar von Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, zuerst erschienen im Mannheimer Morgen.

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