Nach dem Pakt ist vor dem Pakt

Damit die Justiz ihre Aufgaben erfüllen kann, braucht es eine forcierte Digitalisierung und einen deutlichen Personalaufbau. Die künftige Ampelkoalition muss die Erfolgsgeschichte des Rechtsstaatspakts durch einen Bund-Länder-Pakt 2.0 fortschreiben.

Mit dem ersten Pakt für den Rechtsstaat ist es gelungen, im Zeitraum 2017 bis 2021 rund 2500 dauerhafte neue Stellen für Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zu schaffen. Damit hat er sich als Erfolgsmodell erwiesen. Bei aller Freude über den Erfolg ist das eigentliche Ziel, die Justiz überall adäquat auszustatten, aber bei Weitem noch nicht erreicht worden. Die Personallücken haben sich in vielen Gerichten und Staatsanwaltschaften nur teilweise geschlossen. 

Fehlten zum Zeitpunkt des Abschlusses des Rechtsstaatspakts bundesweit etwa 2000 Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, fehlen aktuell noch immer rund 1500 Vollzeitstellen. Auch bei der Amtsanwaltschaft und im Rechtspflegebereich, beim Geschäftsstellenpersonal und insbesondere bei IT-Fachkräften bleibt die Lage angespannt. 

Die Entlastungseffekte des Pakts sind überschaubar geblieben, weil zahlreiche neue gesetzliche Aufgaben die Stellenzuwächse insbesondere in der Strafjustiz weitgehend wieder aufgezehrt haben. Im Ergebnis sind die Staatsanwaltschaften im bundesweiten Schnitt weiterhin nur zu 85 Prozent des tatsächlichen Personalbedarfs besetzt, während die Strafgerichte bei etwa 90 Prozent liegen. 

Die Probleme nehmen noch zu

Die Probleme dürften sich noch verschärfen, wenn die im Vollzug extrem aufwendigen Gesetzespläne für Unternehmenssanktionen wieder aufleben sollten und der Kampf gegen Geldwäsche weiter intensiviert wird. Die zuständige Zoll-Spezialeinheit FIU erwartet für dieses Jahr die Rekordzahl von mehr als 200.000 Verdachtsmeldungen nach dem Geldwäschegesetz; nur noch jeden sechsten Fall hatte sie zuletzt an die Strafverfolger weitergegeben. 

Sollte die FIU ausgebaut werden, um die relevanten Fälle gezielter herausfiltern und weitergeben zu können, wie es aktuell vielfach gefordert wird, werden auch die Verfahrenszahlen und Personalnöte bei den Staatsanwaltschaften deutlich wachsen. Dabei braucht es in den kommenden vier bis fünf Jahren ohnehin Neueinstellungen über den aktuellen Personalbedarf hinaus, um eine stark anwachsende Pensionierungswelle abzuflachen. Bis 2030 verabschieden sich in den ostdeutschen Ländern bis zu zwei Drittel aller Beschäftigten in den Ruhestand.

In den „Leistungsbilanzen“ der Strafgerichte und Staatsanwaltschaften hat der Rechtsstaatspakt bislang nicht zu der erhofften Trendwende geführt. So dauern Gerichtsverfahren vor den Strafgerichten immer länger. Dieser Trend hat sich nach den im August 2021 veröffentlichten Rechtspflegestatistiken fortgesetzt. So ist die durchschnittliche Dauer erstinstanzlicher Strafverfahren vor den Landgerichten 2020 auf einen neuen Höchstwert von 8,1 Monaten gestiegen. Gerechnet ab Eingang bei der Staatsanwaltschaft dauern die erstinstanzlichen Verfahren hier im Schnitt inzwischen sogar 20,3 Monate. Das ist drei Monate länger als 2010 und so lange wie noch nie. 

Kein pandemiebedingter Ausreißer

Auch bei den Amtsgerichten hat sich die durchschnittliche Verfahrensdauer bis zu einem Strafurteil 2020 deutlich auf 5,3 Monate verlängert. Zehn Jahre zuvor waren die Amtsgerichte noch mehr als einen Monat schneller. Da die Verfahrenslaufzeiten in Strafsachen vor allem bei den Landgerichten bereits seit mehreren Jahren steigen, erscheint der neuerliche Anstieg im Corona-Jahr auch nicht als pandemiebedingter Ausreißer.

Die Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaften bleibt ebenfalls hoch, wie die Ende August veröffentlichten Erledigungszahlen für 2020 zeigen. Mit 4.996.494 Verfahren haben die Staatsanwaltschaften im Corona-Jahr 2020 die zweithöchste Fallzahl der vergangenen 20 Jahre erledigt. Etwa jedes vierte Verfahren haben die Strafverfolger allerdings nach Ermessensvorschriften ohne Auflagen eingestellt. Die Statistik erfasst hier die Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft zwar einen hinreichenden Tatverdacht sieht, das Verfahren gegen den Beschuldigten aber zum Beispiel wegen Geringfügigkeit oder als unwesentliche Nebentat ohne Auflagen einstellt. 

Auffällig ist außerdem, dass die Zahl der Anklagen immer weiter zurückgeht und 2020 mit rund 388.000 Fällen den tiefsten Stand seit 20 Jahren erreicht hat. Weniger als 8 Prozent der 5 Millionen erledigten Fälle mündeten 2020 noch in eine Anklage. Zum Vergleich: 2010 führten noch mehr als 512.000 von insgesamt 4,6 Millionen erledigten Verfahren zu einer Anklage. Ein ähnlicher Trend ergibt sich, wenn Anklagen und Strafbefehlsanträge zusammen betrachtet werden. 

Der Ruf der Justiz ist schlecht

Die statistischen Befunde decken sich mit der Wahrnehmung der Justiz in der Mehrheit der Bevölkerung. In einer repräsentativen Allensbach-Umfrage für den Roland Rechtsreport 2021 geben mehr als 80 Prozent der Befragten an, dass Gerichtsverfahren häufig zu lange dauern, drei von vier Befragten halten die Justiz für überlastet.  

Um die Leistungsfähigkeit insbesondere der Strafjustiz weiter zu verbessern, reicht zusätzliches Personal allein freilich nicht aus. Zu einer effektiveren Strafverfolgung beitragen könnte daneben eine Technik- und Modernisierungsoffensive auch in den Ermittlungsbehörden. Während die auszuwertenden Datenmengen in der digitalen Welt immer schneller wachsen, fehlt es vielfach noch an innovativen Werkzeugen für eine automatisierte Auswertung. Die Ermittler kommen deshalb mit der Bewertung gesicherter Dateien kaum hinterher – sei es im Bereich der Kinderpornographie und Internetkriminalität oder in Fällen der Wirtschafts- und organisierten Bandenkriminalität. 

Digitalisierung stärker vorantreiben

Welches Potenzial moderne Technik auch für die Strafverfolgung haben kann, zeigt ein Beispiel der Zentralstelle Cybercrime NRW. Die Kölner Ermittler haben in einem Forschungsprojekt getestet, wie gut sich mutmaßliche Kinderpornodateien mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) auf strafbare Inhalte filtern lassen. Nach ihrer Aussage hat die getestete Software Kinderpornographie mit einer Genauigkeit von mehr als 90 Prozent erkannt. 

Auf dem weiteren Weg der Digitalisierung gibt es in allen Bereichen der Justiz noch große Potenziale. Eine „bürgernahe“ Justiz muss in Zukunft auch eine verlässlich digital erreichbare Justiz sein, die einfach gelagerte Fälle schnell entscheiden kann. Wenngleich die Länder anlässlich der Pandemie teilweise kräftig in ihre Justiz-IT investiert haben, wird es ohne ein höheres Innovations- und Investitionstempo nicht gelingen, den Umstieg auf eine flächendeckend digitalisierte Justiz bis zum bundesgesetzlich festgelegten Starttermin der E-Akte am 1.1.2026 zu meistern. 

Gesetze durchsetzen, nicht ständig neue produzieren

Es gilt zum Beispiel massiv in Hardware und E-Akten-Software, in Breitbandanschlüsse und Videotechnik für Online-Zivilprozesse sowie in den Aufbau bürgerfreundlicher Klage-Tools und softwaregestützter Assistenzsysteme für gleichgelagerte Massenverfahren zu investieren. Auch die mit dem Rechtsstaatspakt 2019 angekündigte bundeseinheitliche Kommunikationsschnittstelle zwischen Polizei und Justiz ist noch nicht in Sicht. Statt eines sicheren elektronischen Datenaustausches der Polizei, der Ordnungsämter, der Finanzbehörden, der Familienkassen oder von Kliniken mit der Justiz läuft auch 2021 vieles wie eh und je – über Papierakten. 

Die neue Bundesregierung sollte ihre Priorität in den nächsten vier Jahren sehr viel stärker auf die wirksame Durchsetzung des Rechts und nicht zuerst auf neue Gesetze legen. Gerade im Strafrecht und bei den Sicherheitsgesetzen hat die Politik zuletzt mitunter kurzatmig auf Einzelfälle reagiert und aus Sicht der Rechtsanwender nicht immer zielführend gehandelt. Allein der letzte Bundestag hat mehr als 500 neue Gesetze beschlossen. Es fehlt dem Rechtsstaat nicht in erster Linie an detaillierten Regelungen, Verboten und Strafvorschriften, sondern an technisch wie personell gut genug ausgestatteten Gerichten und Behörden, um die bestehenden Gesetze stringent durchsetzen zu können.  

Ein Beitrag von Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, für FAZ Einspruch.

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